Von Diskriminierung und Ausgrenzung zum systematischen Völkermord
Beitragsseiten
Von Diskriminierung und Ausgrenzung zum systematischen Völkermord
Mit der Zwangssterilisation begann der Völkermord an Sinti und Roma 1933 auf einer anfangs formalrechtlichen Grundlage. Das am 14. Juli 1933 von der nationalsozialistischen Regierung verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war zwar schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik entstanden, die Nationalsozialisten hatten es jedoch um den Aspekt der Zwangssterilisation verschärft. Die im Gesetz genannten Indikationen von vererbbaren Krankheiten umfassten u.a. im ersten Punkt „erblichen Schwachsinn“, was den Eugenikern ein weites Tor für Sterilisationsanträge öffnete. „Schwachsinn“ wurde bei unterschiedlichen Formen gesellschaftlich nicht angepassten Verhaltens unterstellt und zumeist mit Hilfe eines „Intelligenzprüfbogens“ diagnostiziert.
Um Sinti und Roma im Sinne der „Nürnberger Gesetze“ wie die Juden als minderwertige Rasse zu definieren, bedienten sich die Nationalsozialisten der Rassenforschung, die schon vor Beginn der NS-Diktatur etabliert war. Mit den Durchführungsverordnungen zu den Nürnberger Gesetzen von 1935 wurde auch für Sinti und Roma ein Eheverbot mit „reinrassigen“ Deutschen verhängt, und sie verloren ihre politischen Rechte. Ab dem 3. Januar 1936 stellten die Nationalsozialisten Sinti und Roma durch einen vertraulichen Erlass des Reichsministers Frick an alle Landesregierungen, Standesämter, Aufsichtsbehörden und Gesundheitsämter Jüdinnen und Juden gesetzlich gleich. Damit waren die Voraussetzungen geschaffen, sie familienweise aufgrund ihrer Abstammung zu ermorden.
Ende 1936 wurde in Berlin die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ unter Leitung von Dr. Robert Ritter eingerichtet. Sie sollte alle Sinti und Roma im Gebiet des Deutschen Reiches erfassen und sie in die Kategorien „stammecht-reinrassig“ oder „Mischlinge“ einordnen. Damit sollte eine pseudowissenschaftliche Grundlage geschaffen werden, auf der entschieden werden sollte, wie weiter mit ihnen umzugehen sei. Ab 1937 nahm die Forschungsstelle mit sogenannten „fliegenden Arbeitsgruppen“ ihre Arbeit im Reichsgebiet auf. Mit dem Himmler-Erlass vom 8. Dezember 1938 sollte die „Forschungsstelle“ in enger Kooperation mit dem SS- und Polizeiapparat alle im Reich lebenden Sinti und Roma erfassen und „rassenbiologisch“ klassifizieren. Auf der Grundlage von amtlichen Auskünften über Sinti und Roma und von ihnen unter Mithilfe der Polizei erzwungenen Aussagen über ihre Angehörigen wurden Familienstammbäume, sog. Genealogien, erstellt. Viele Sinti und Roma gaben Ritter und die Arbeitsgruppen, insbesondere seiner Mitarbeiterin Eva Justin bereitwillig Auskunft, da diese extra etwas Romanes gelernt hatten und sich damit das Vertrauen der Befragten erschlichen. Die einzelnen Personen, gleich welchen Alters oder Geschlechts, wurden nach den Befragungen entwürdigend behandelt. Sie wurden fotografiert und mit „anthropometrischem Besteck“ von Kopf bis Fuß vermessen und später „rassendiagnostisch“ bewertet. Zudem wurden Finger- und Handabdrücke und manchmal auch Gipsabdrücke von Köpfen genommen. Neben detaillierten Stammbaumtafeln wurden Tausende anthropologische Fotografien angefertigt. Zahllose Blut- und Haarproben wurden genommen.
Die Rassenhygienische Forschungsstelle erstellte auf diese Weise seit 1938 etwa 24000 Gutachten über Sinti und Roma. Über 90 Prozent der so erfassten Sinti und Roma wurden als „Mischlinge“ eingestuft. Ritter erklärte sie in einem Arbeitsbericht für „erbbiologisch minderwertig“ und in einem anderen Aufsatz zu „typisch Primitiven“, die „geschichtslos“ und „kulturarm“ seien und die sich wegen „der Macht der Vererbung“ nicht ändern könnten. In einem Arbeitsbericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die das Projekt der Erfassung der Sinti und Roma wesentlich finanzierte, folgerte er 1940: „Die Zigeunerfrage kann nur dann als gelöst angesehen werden, wenn das Gros der asozialen und nichtsnutzen Zigeunermischlinge in großen Wanderarbeiterlagern gesammelt und zur Arbeit angehalten, und wenn die weitere Fortpflanzung dieser Mischlingspopulation endgültig unterbunden wird. Nur dann werden die kommenden Geschlechter des deutschen Volkes von dieser Last wirklich befreit sein. Die Rassenhygienische Forschungsstelle ist schon heute in der Lage, sich über den Mischlingsgrad und den Erbwert jedes einzelnen Zigeuners sachverständig zu äußern, so dass der Inangriffnahme rassenhygienischer Maßnahmen nichts im Wege steht.“